Der nachfolgende Beitrag trägt den Titel "Aus unserer Vereinsgeschichte" und wurde von dem zum Zeitpunkt des 125-jährigen Vereinsjubiläums (1986) amtierenden 1. Vorsitzenden, Heinz Neugebauer, in der Festzeitschrift veröffentlicht:
Das erste Turn- und Jugendfest, das 1860 in Coburg stattfand, brachte den Durchbruch zur Gründung von Turnvereinen in vielen Städten auf dem Land. Da konnte Varel, zu dieser Zeit eine blühende Industriestadt, nicht zurückstehen. Den Aufruf vom 13. April 1861 im Gemeinnützigen mit der Überschrift
"Frisch - Frei - Fröhlich - Fromm"
folgte bereits am 12. Mai eine Versammlung von Vareler Bürgern, die beschlossen, am 31. Mai eine Gründungsversammlung abzuhalten. 30 junge Männer gründeten an diesem Abend den Vareler Turnerbund und wählten zum Vorstand und Sprecher den Stadtkämmerer Kumm und zum Turnwart den Postsekretär Mangers.
Friedrich-Ludwig Jahn, der spätere "Turnvater", hatte bereits 1811 in der Hasenheide bei Berlin mit Übungen zur Körperertüchtigung, für die er das Wort "Turnen" prägte, begonnen. Sein Bestreben war, die Volksbildung von Körper und Geist zu schulen und auf breiter Basis zu verwirklichen. Es war die Zeit des politischen Aufbruchs und der Sammlung aller patriotischen Kräfte für das geistige Selbstbewusstsein des Deutschtums. Johann Gottlieb Fichte, erster Rektor der Universität Berlin und Heinrich Kleist forderten in Reden und Schriften zur nationalen Besinnung auf. 1815 war Jahn Mitbegründer der Jenaer Burschenschaft, eines Zusammenschlusses freiheitlich gesinnter Studenten. Wegen seines politischen Engagements wurde Jahn 1819 zur Festungshaft verurteilt und bis 1840 unter Polizeiaufsicht gestellt. Dies führte dazu, dass er draußen im Lande mehr als deutscher Patriot denn als Förderer der Leibeserziehung angesehen wurde. So fand dann auch Lehrer Ballauf, der 1842 in der Bürgerschule in Varel den ersten obligatorischen Turnunterricht eingeführt hatte, nur wenig Resonanz. Das Turnen wurde wieder eingestellt.
Die schwäbischen Turnführer Theodor Geogii aus Esslingen und Carl Kallenberg aus Stuttgart hatten zum ersten Turn- und Jugendfest in Coburg den „Ruf zur Sammlung“ erlassen. Das Ziel war, über die Turnbewegung die deutsche Einigung voranzutreiben. Auch in Varel blieben die Aufrufe zur deutschen Einigung nicht ungehört. Für die Beziehung zwischen Turnen und Politik ist es bezeichnend, dass Vareler Bürger, die das Eisenacher Programm vom 14.08.1859 mit unterzeichneten, auch zu den Gründern des Vareler Turnerbundes gehörten. Im Eisenacher Programm sahen deutsche Patrioten die Unabhängigkeit des Vaterlandes bedroht und forderten, den deutschen Bundestag durch eine feste, starke und bleibende Zentralverwaltung zu ersetzen und zu diesem Zweck eine Nationalversammlung einzuberufen.
Der neu gegründete Turnerbund wuchs schnell heran. Noch im Gründungsjahr zählte er 81 Mitglieder, von denen der größte Teil aktive Turner waren. Bereits am 21. August wurde im Rahmen eines Schauturnens auf der Schützenwiese die von den Vareler Damen gestickte Vereinsfahne geweiht. Die Damen trugen über weißen Festkleidern Schärpen in den Reichsfarben schwarz-rot-gold und einen Eichenkranz im Haar.
Die gute Entwicklung des turnerischen Lebens wurde wiederum durch politische Ereignisse gehemmt. Die Kriege von 1864 und 1866 gegen Dänemark und Österreich führten, wie überall im Lande, zur Bildung von Wehrvereinen. Viele Turner beteiligten sich an Wehrübungen und durch Vereinigung mit den Wehrvereinen entstand der „Turn- und Wehrverein“. Trotzdem wurde das Turnen nicht ganz aufgegeben. Am Gauturnfest, das am 4. Juli 1865 in Emden stattfand, waren auch Vareler Turner beteiligt.
Am 7. August 1869 wurde ein neuer Anfang gestartet und nun folgte ein stetiger Aufschwung. Steigende Mitgliederzahlen machten die Gründung neuer Abteilungen erforderlich und die lange Friedenszeit zwischen den Kriegen 1870/71 und 1914/18 ließ den Plan zum Bau einer eigenen Turnhalle endlich verwirklichen.
Der folgende 1. Weltkrieg und der hohen Blutzoll fordernde Krieg 1939/45 griffen tief in das Vereinsleben ein. Danach waren es wieder tatkräftige Frauen und Männer, die das, was in acht Jahrzehnten geschaffen worden war, nicht untergehen lassen wollten. Der Neubeginn war für sie Verpflichtung und Herausforderung zugleich.
Patriotismus im Sinne der Gründerjahre, der auch besonders in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts nach dem verlorenen Krieg in der deutschen Turnerschaft gepflegt wurde, hat im heutigen Verein keinen Nährboden mehr; aber auch für Ideologien ist kein Raum. Der dem römischen Dichter und Satiriker Juvenal zugeschriebene Ausspruch „In einem gesunden Körper wohne auch ein gesunder Geist“, ist nicht nur von Politikern der Turnbewegung zugeschrieben worden, obwohl er nach dem Psychologen Hellpach richtig übersetzt heißen soll: „Es ist zu wünschen, dass in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist wohne“. Abkehr von Patriotismus und Ideologien bedeutet aber nicht, auf Tradition zu verzichten. Ein Verein, der seit 125 Jahren die gleichen Ziele verfolgt und dem es vergönnt ist, immer wieder Frauen und Männer in seinen Reihen zu haben, die sich aufopfernd für die Durchsetzung ihrer selbst gestellten Aufgaben einsetzen, darf, auch wenn es pathetisch klingt, stolz sein auf seine Tradition.
Tradition und Fortschritt schließen sich im Turnerbund nicht aus; Fortschritt hat für die Turner immer Fortführung der Tradition mit anderen Mitteln bedeutet. Unter Wahrung der Tradition verstehen die Turner nicht lediglich Beibehaltung der übernommener Formen, sondern Neubelebung des geistig-ideellen Erbes und der ethischen Grundhaltung. Dies sagte der Präsident des deutschen Turnerbundes, Willi Greite, beim Festakt zum 125-jährigen Jubiläums 1985 in Coburg und erinnerte an die Worte von Theodor Heuss: „Unser aller Aufgabe ist es, den Kindern, den Enkeln die Chance eines Traditionsgefühls zu sichern, das nichts mehr kennt von bramarbasierendem Pathos, sondern nüchtern vor der Wirklichkeit steht, aber um die Pflicht vor dem Werdenden weiß“.
Unser Turnerbund bietet heute in seiner Vielfältigkeit jedem die Möglichkeit, seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechend ein Betätigungsfeld zu finden und menschliche Beziehungen zu pflegen. Wer auch nur als Zuschauer in die Turnstunden geht, ob zu den Kindern oder zu den übrigen Abteilungen bis hin zu den Senioren, spürt die Gemeinschaft, in der sich alle verbunden fühlen. Einen großen Anteil daran haben die Turnerinnen und Turner und davon erfreulich viele Jugendliche, die als Fachwarte und Übungsleiter uneigennützig und mit viel Zeitaufwand und anderen Opfern der Gemeinschaft dienen. An dieser Stelle ist ihnen besonders zu danken, aber auch den Frauen und Männern, die in politischen Gremien auf allen Ebenen dafür eintreten, dass den Turnvereinen die Einrichtungen in Turnhallen und auf Sportplätzen zur Verfügung gestellt werden, die diese für ihre selbst gestellten Aufgaben zum Nutzen der Allgemeinheit benötigen. Die Turnvereine sind als Bestandteil unseres Gemeinwesens unverzichtbar geworden. Sie sind als Einrichtungen der offenen Tür allen Bürgern zugänglich. Politische Meinungen, konfessionelle Bekenntnisse, gesellschaftliche und soziale Stellung sind nicht mehr relevant.
Der Verfasser und die Mitarbeiter an dieser Festschrift schätzen sich glücklich, nach der Jubiläumsschrift zum 100sten Geburtstag über einen Zeitraum berichten zu können, in dem die positive Entwicklung in allen Abteilungen des VTB weder durch Krieg noch durch andere Ereignisse gestört wurde. Einig sind sich alle in dem Wunsch, dass der innere und äußere Friede uns noch lange erhalten bleiben möge.